22 Gutachten über das Verfassungsverständnis einer Berufsverbotsbetroffenen

Maxim Jost, Galilei im Gespräch mit der Lehrerin Inge B. über die zeitliche Begrenztheit von Berufsverboten. Diese Dokumentation ist, wie man hier sieht, seit Jahrzehnten bei verschiedenen bayerischen Verwaltungsgerichten aktenkundig.

 

Zum 60. Jahrestag des KPD-Verbots, dessen Argumentations-Versatzstücke in vielen Berufsverbotsverfahren auftauchten, machen wir ein Dokument der Zeit- und Rechtsgeschichte wieder zugänglich.

 

Eine bayerische Lehramtsbewerberin – ihr Anwalt nannte sie eine „marxistische Sozialistin“, sie war Mitglied der DKP – ging Punkt für alles durch, was ihr als Kernstücke der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ entgegen gehalten wurde. Sie schrieb am 1. Oktober 1973 detailliert auf, wie sie über jeden einzelnen dieser Punkte dachte, und schickte diese Darlegung ihres Selbstverständnisses an ihre Schulbehörde. (Viele Betroffene, auch aus anderen politischen Gruppen, haben Ähnliches getan - was blieb ihnen sonst übrig? -, beispielhaft sei dafür nur Winfried Kretschmann zitiert, damals AStA-Vorsitzender der Uni Hohenheim, heute Ministerpräsident Baden-Württembergs.)

 

Das Verwaltungsgericht München lehnte mit Beschluss vom 12. November 1973 den Antrag der Bewerberin ab. Ihr Anwalt Hans E. Schmitt-Lermann machte dann Folgendes. Er schickte ihre Selbstdarstellung und das Urteil mit einem Begleitbrief an „Bundesverfassungsrichter, Ordinarien des Öffentlichen Rechts und verfassungspolitisch orientierte Repräsentanten der bundesdeutschen Gesellschaftswissenschaft mit der Bitte um gutachterliche Stellungnahme“. Unter ihnen waren die damals noch lebenden vier Bundesverfassungsrichter, die am KPD-Verbot mitgewirkt hatten.

 

Der Anwalt sagte offen, seiner Mandantin und ihm bliebe gar nichts Anderes übrig, als um „Persilscheine“ angesehener Fachleute zu bitten. Und er bekam tatsächlich 22 Gutachten zurück, die er 1976 anderen Betroffenen (für ihre eigenen Verfahren) und der Öffentlichkeit mit einer entsprechenden Einführung in Form einer Broschüre zur Verfügung stellte. Sein Resümee: Ausweislich der Gutachten sei „die treueverbürgende Legitimität des hier zur Begutachtung gebotenen Verfassungsverständnisses ... jedenfalls gewährleistet.“ Alle Gutachten, schrieb Schmitt-Lermann in einem 2012 auf unserer Website veröffentlichten Vortrag, „waren irgendwie positiv, doch geradezu begeistert äußerten sich die beiden Verfassungsrichter, die damals die Verbotsbegründung gegen die KPD verfasst hatten: Prof. Martin Drath und Prof. Konrad Zweigert. Sie litten offensichtlich unter schlechtem Gewissen, versuchten vieles am KPD-Verbot und ihrem Tatbeitrag zu zerreden und offenbarten dabei so manches.“ Alles nützte nichts - die Lehramtsbewerberin wurde entgegen den Aussagen der Verfassungsrichter auch in der höheren Instanz abgelehnt, ein „Offenbarungseid der Berufsverbots-Rechtsprechung“, über den DER SPIEGEL 16/1982 berichtete (pdf) (pdf lokal).

 

Diese Gutachten aus den Jahren 1975/76 stellen wir hier in alphabetischer Reihenfolge der Verfasser/in zur Verfügung. Soweit über die Verfasser/in Informationen im Internet vorliegen, wird hierauf verwiesen. Die Amts- und Funktionsbezeichnungen entsprechen dem damaligen Stand.

 

  • Gutachten von Prof. Dr. Klaus von Beyme, Universität Heidelberg, Institut für Politische Wissenschaft, damals Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft
  • Gutachten von Prof. Dr. jur. Erhard Denninger, Universität Frankfurt/Main, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Ministerialdirektor
  • Gutachten zum vorliegenden Fall von Prof. Dr. Martin Drath (1902-1976), Bundesverfassungsrichter a.D., Haupt-Berichterstatter im KPD-Verbotsprozess und Hauptverfasser des Urteils – und das in der Broschüre abgedruckte frühere Gutachten zur Berufung auf das KPD-Verbotsurteil in solchen Verfahren
  • Gutachten von Prof. Dr. Iring Fetscher (1922-2014), Universität Frankfurt/Main, Professor für Politikwissenschaft und Sozialphilosophie, Leiter des „Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus“
  • Gutachten von Prof. Dr. Rudolf Gärtner, Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft
  • Gutachten von Prof. Dr. Jürgen Habermas, Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Starnberg; damals vorgestellt als „der wohl im Ausland bekannteste Vertreter westdeutscher Gesellschaftswissenschaft“
  • Gutachten von Prof. Dr. Hans-Hermann Hartwich, Universität Hamburg, Lehrstuhl Politikwissenschaft, später zeitweise Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft
  • Gutachten von Prof. Dr. Erich Küchenhoff (1922-2008), Universität Münster, Professor für Öffentliches Recht und Politische Wissenschaft
  • Gutachten von Prof. Dr. Helmut Robert Külz (1903-1985), Freie Universität Berlin, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts a.D.
  • Gutachten von Prof. Dr. jur. Christoph Müller, Freie Universität Berlin, Professor für Staatsrecht und Politik
  • Gutachten von Prof. Dr. Norman Paech, Universität Hamburg, Fachbereich Rechtswissenschaft
  • Gutachten von Prof. Dr. Adalbert Podlech , Prorektor der Universität Heidelberg, gleichzeitig Technische Hochschule Darmstadt, Fachgebiet Öffentliches Recht
  • Gutachten von Prof. Dr. Helmut Ridder (1919-2007), Universität Gießen, Fachbereich Rechtswissenschaft
  • Gutachten von Prof. Dr. jur. Peter Römer, Universität Marburg, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften [in der Einführung der Broschüre fehlerhaft angegeben]
  • Gutachten von Prof. Dr. Hans-Peter Schneider, Technische Universität Hannover, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, später Mitglied mehrerer Staatsgerichtshöfe
  • Gutachten (Transkription) von Dr. Herbert Scholtissek (1900-1979), Bundesverfassungsrichter a.D., mitwirkender Richter am KPD-Verbotsurteil von 1956 - handschriftliches Original in der Broschüre [Wie sich Richter auch anderswo über die Meinung des Bundesverfassungsrichters Scholtissek „souverän“ hinwegsetzten, berichtete DER SPIEGEL am 05.02.1973 (pdf)]
  • Gutachten von Prof. Dr. Kurt Sontheimer (1928-2005), Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft; Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags
  • Gutachten von Prof. Dr. jur. Ilse Staff (Universität Frankfurt/Main, Staats- und Verwaltungsrecht
  • Gutachten von Prof. Dr. jur. Erwin Stein (1903-1992), Universität Hamburg, Kultusminister a.D., Bundesverfassungsrichter a.D., mitwirkender Richter am KPD-Verbotsurteil von 1956
  • Gutachten von Prof. Dr. Heinz Josef Varain (1925-2011), Universität Gießen, Seminar für die Wissenschaft von der Politik
  • Gutachten von Prof. Dr. Heinz Wagner, Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft
  • Gutachten von Prof. Dr. Dr. Konrad Zweigert (1911-1996), Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Hamburg, Bundesverfassungsrichter a.D., Mit-Berichterstatter im KPD-Verbotsprozess 1952-1956 und Mitverfasser des Verbotsurteils

 

Auf viele Details des ablehnenden Urteils des VG München gingen die Gutachten ein. Schlichtes Entsetzen sprach aus mehreren Antworten, dass der studierten Politologin nicht einmal geglaubt wurde, dass sie ihre Gedanken selbst entwickelte. Ihr wurde eigentlich überhaupt nichts geglaubt. Die Aussage ihres Hochschullehrers, dass sie „sich ‚persönlich stellt’ und aktiv für ihre Ansichten eintritt“ – als Lob und Maßstab der persönlichen Glaubwürdigkeit gemeint – wurde vom Gericht in eine Warnung vor ihrer Gefährlichkeit umgedeutet. Andere auf dieser Website dokumentierte „Fälle“ belegen, dass das, was damals in München ablief, eigentlich nur beispielhaft illustriert, was zahllose Betroffene des „Radikalenerlasses“ vor Gerichten erlebten. Jürgen Habermas brachte es drastisch auf den Punkt: „Lieber sollte man allen Lehrern und Hochschullehrern die Beamteneigenschaft nehmen, als dass auch nur ein einziger richterlichen Gesinnungsprüfungen unterworfen würde, die für alle Beteiligten ebenso lächerlich wie unwürdig sind.“ Den „Gesinnungsprüfungen“ haben sich Einstellungsbehörden und Gerichte dann zunehmend dadurch entzogen, dass sie einzig und allein auf die Zugehörigkeit zu Organisationen abhoben, obwohl das Bundesverfassungsgericht 1975 erklärte, genau das sei nicht zulässig.

 

In der Broschüre von 1976 waren noch einige weitere aufschlussreiche Materialien enthalten:

 

 

Bei den Leserinnen und Lesern entschuldigen wir uns für die schlechte Lesbarkeit mancher Seiten, die der damaligen Druckqualität geschuldet ist. Wie die Anstreichungen in unserer Vorlage zeigen, ist die Broschüre von anderen Betroffenen damals auch intensiv studiert und genutzt worden.