Berufsverbote verstoßen gegen „Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, 1958“ (ILO)

Die Berufsverbote sind unvereinbar mit „Kernarbeitsnormen“ des internationalen Arbeitsrechts, konkret: dem „Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, 1958“, das die Bundesrepublik Deutschland bereits am 15. Juni 1961 im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation ratifiziert hat und das deshalb entsprechend Artikel 25 Grundgesetz als innerstaatliches Recht gilt (Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt II vom 14.03.1961 - pdf). Das hat die Internationale Arbeitsorganisation - meist mit ihrer englischen Abkürzung als ILO bekannt - mehrfach festgestellt. Nur wurde es lange nicht beherzigt - auch nicht (mit ganz wenigen Ausnahmen) von deutschen Gerichten. Bayern setzt sich immer noch darüber hinweg.

Eine neue Qualität bekam das ILO-Übereinkommen 111 durch die EU-Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 „zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ und seine deutsche Umsetzung, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz AGG. Denn in der Präambel der EU-Richtlinie (Punkt 4) wird ausdrücklich auf das ILO-Übereinkommen 111 Bezug genommen. Das AGG ist im Geist und im Sinn der erwähnten Richtlinie und - implizit - auch des ILO-Übereinkommens auszulegen.

 

Mit der Nichterwähnung dieses Sachverhalts bei einem „Festakt“ zum 100jährigen Bestehen der ILO am 12.03.2019 in Berlin beschäftigt sich unser Blog „Aktuelles“.

 

Das Schlüsseldokument ist der im Internet nur hier bei uns in deutscher, auf der ILO-Website noch in englischer (pdf), französischer (pdf) und spanischer (pdf) Sprache vollständig abrufbare Bericht des gemäß Artikel 26 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation eingesetzten Ausschusses zur Prüfung der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958, durch die Bundesrepublik Deutschland.

Amtliche deutsche Übersetzung: Internationales Arbeitsamt Genf, Official Bulletin 1987 vol. LXX Series B Supplement 1, ISBN 92-2-705896-6. (Scan der Originalveröffentlichung)

Der Text  ist vollständig nachgedruckt in: Klaus Dammann, Erwin Siemantel (Hrsg.): Berufsverbote und Menschenrechte in der Bundesrepublik. Köln: Pahl-Rugenstein (Kleine Bibliothek 455), 1987, ISBN 3-7609-1149-8. (Titel, Inhaltsverzeichnis, Vorwort, Autorenverzeichnis).

Die Initiative „Weg mit den Berufsverboten“, Hamburg, verschickte 1987 eine auszugsweise Reproduktion des Berichts, die wir hier ebenfalls zum Download anbieten. Bei der Online-Videokonferenz des „Gesprächskreises Bargteheide“ (Schleswig-Holstein) am 11.08.2020 über das Thema „Radikalenerlass“ wurde die damalige Rezeption ausführlich besprochen.

 

Einschätzung von Horst Bethge vom 26.02.1987 mit Übersicht über die Gliederung des Berichts
Titel und Inhaltsverzeichnis (Nachdruck)

Kapitel 1: Die Vorgänge bis zur Einsetzung des Ausschusses (Nr. 1 bis 17, Nachdruck)

Kapitel 2: Das Verfahren des Ausschusses (Nr. 18 bis 66, Nachdruck)

Kapitel 3: Die Erfordernisse des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf, 1958, betreffend den Schutz gegen Diskriminierung auf Grund der politischen Meinung (Nr. 67 bis 96, Nachdruck)

Kapitel 4: Frühere Untersuchungen der Lage durch Überwachungsorgane der IAO (Nr. 97 bis 108, Nachdruck)

Kapitel 5: Die Struktur des öffentlichen Dienstes und das Recht des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 109 bis 236, Nachdruck)

Kapitel 6: Die vorgebrachten Behauptungen und darauf bezüglichen Unterlagen (Nr. 237 bis 393, Nachdruck)

Kapitel 7: Die Stellungnahmen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 394 bis 398, Nachdruck)

Kapitel 8: Stellungnahmen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen (Nr. 399 bis 420, Nachdruck)

Kapitel 9: Die zahlenmäßige Größenordnung der Fälle (Nr. 421 bis 448, Nachdruck)

Reproduzierte Auszüge aus Nr. 1 bis 274 - Reproduzierte Auszüge aus Nr. 275 bis 448

Kapitel 10: Feststellungen und Empfehlungen (Nr. 449 bis 594, vollständiger Nachdruck)

Reproduktion: 449-467, 468-497, 498-523, 529-554, 555-593, 594, Minderheitenvotum von Professor Gonzalo Parra-Aranguren, Caracas, mit Stellungnahme anderer Ausschussmitglieder

Anhang I: Wortlaut der materiellen Bestimmungen des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958 (Nachdruck)

Anhang II: Bestimmungen der Verfassung der IAO über Untersuchungsausschüsse (Nachdruck)

Stellungnahme der Bundesregierung an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes, 7. Mai 1987 (Nachdruck)

 

(Auszüge aus dem ILO-Bericht enthält der 2018 vorgelegte Bericht der „Niedersächsischen Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem sogenannten Radikalenerlass“)

 

Die Gutachter des ILO-Untersuchungsausschusses waren:

Voitto Saario (1912-2001, Vorsitzender), 1972-1982 Präsident des Berufungsgerichts von Helsinki (Finnland)
Dietrich Schindler (1924-2018), Professor für Internationales Recht und Verfassungsrecht an der Universität Zürich (Schweiz)
Gonzalo Parra-Aranguren (1928-2016), Professor für Internationales Privatrecht an der Universidad Central de Venezuela, Caracas, später Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag

Die Bedeutung dieser internationalen Normen

 

Was ILO-Normen für das deutsche Arbeitsrecht bedeuten, hat der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes - damals Ernst Breit (1924-2013) - im Jahr 1988 auf einer Pressekonferenz knapp und eingängig dargelegt. Einer der Anlässe für seinen Auftritt waren die damaligen Berufsverbote bei Bundesbehörden und in den Bundesländern. In der Buchveröffentlichung des ILO-Berichts äußerte sich der Jurist Gerhard Stuby (geb. 1934) zur Verbindlichkeit von Empfehlungen eines ILO-Untersuchungsausschusses. Der Gewerkschaftsjurist Klaus Lörcher analysierte die Interpretationsmethode des Berichts und die Auswirkungen auf das Beamtenrecht.

Wie die Gewerkschaften auf den ILO-Bericht unmittelbar reagierten, zeigen weitere Beiträge in der damaligen Buchveröffentlichung von Günter Ratz (damals Leiter der Rechtsabteilung 1 der Deutschen Postgewerkschaft) und zur Auseinandersetzung in Baden-Württemberg von Siegfried Pommerenke (1933-2016, damals Vorsitzender des DGB BW). Interessant sind auch die damaligen Stellungnahmen aus den Reihen der Bundestagsfraktion der SPD von Peter Paterna (geb. 1937) und der GRÜNEN von deren Justitiar Uwe Günther. In einem Beitrag von Horst Bethge (1935-2011) und Hannes Holländer werden „Das bisherige Ausmaß der Berufsverbotspolitik und ihre neueren Tendenzen“ nach dem Stand von 1987 beleuchtet. Von Eckart Spoo (1936-2016) ist dem Buch eine Betrachtung über „Die Wirkungsweise eines angeblich nicht existenten Phänomens“ beigegeben.

 

Das Überprüfungsverfahren der ILO

 

Zur Internationalen Arbeitsorganisation gehören bestimmte Verfahrensweisen, wie die Einhaltung der vereinbarten Normen international überprüft wird. Ein langwieriges, kompliziertes, aber auch sehr gründliches Verfahren. Wie es funktioniert und welche Rolle es spielt, wurde von Rechtsanwalt Klaus Dammann (1946-2020) 1987 in einem Beitrag der Buchveröffentlichung und 1988 in einem Rundschreiben an Betroffene übersichtlich dargestellt. Valentin Klotz (geb. 1939), Mitarbeiter der Abteilung „Angestellte und Geistesarbeiter“ im Internationalen Arbeitsamt Genf, erläuterte in einem Beitrag der Buchveröffentlichung „Das Aufsichtssystem der Internationalen Arbeitsorganisation zur Durchführung internationaler Arbeitsnormen“. Auch eine aktuelle Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags vom 11.05.2016 (pdf) erläutert das Verfahren „bei Verstößen gegen Kernarbeitsnormen“ (!), zu denen das Übereinkommen Nr. 111 ausdrücklich gezählt wird. Um so mehr erstaunt, dass der die Bundesrepublik Deutschland betreffende Überprüfungsbericht von 1987 heute in deutscher Sprache auf keiner amtlichen Website zu finden ist (nur hier bei uns und - siehe oben - in englischer, französischer und spanischer Fassung bei der ILO). (In einer am 7. Juli 2017 erstellten Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags zum „sogenannte[n] Radikalenerlass in der deutschen und europäischen Rechtsprechung“ bleibt der ILO-Bericht aufgrund der (wohlweislich so gewählten?) Formulierung des Themas ausgespart, da es sich bei dem Überprüfungsverfahren um keine „Rechtsprechung“ im Sinne einer Gerichtsentscheidung handelt und außerdem die ILO eine weltweite - also nicht nur eine „europäische“ - Instutition ist.)

 

Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung, die 1988 auf der 75. Konferenz der ILO über die Umsetzung geführt wurde. Die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes hatte sich damals an die ILO gewandt, weil sie damals entsprechende Schritte der Bundesregierung vermisste. Ein ILO- Sachverständigenausschuss nahm daraufhin im Mai 1988 Stellung zu der nicht erfolgten Umsetzung der Empfehlungen von 1987 (Auszüge deutsch mit Briefwechsel - englisch). Der vom DGB entsandte Arbeitnehmervertreter der Bundesrepublik Deutschland im Konferenzkomitee kritisierte am 14. Juni 1988 die Herangehensweise der damaligen Bundesregierung mit deutlichen Worten und nahm Stellung zu einigen Fragen, die die Diskussion über die Berufsverbote bis heute bestimmen. In englischer Sprache kann das Verlaufsprotokoll der damaligen Diskussion über die Umsetzung des Übereinkommens 111 nachgelesen werden. Ebenfalls in englischer Sprache steht der Diskussionsbeitrag des damaligen stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Gerd Muhr zur Verfügung, in dem er allgemein auf den Stellenwert der ILO-Übereinkommen für die nationalen Normen des Arbeitsrechts zu sprechen kam. Bezogen auf die Verurteilung der Berufsverbote durch die ILO war seine Aussage klar: „Die Bundesrepublik hat das Verfahren akzeptiert und wir erwarten nun, dass sie die Empfehlungen des Ausschusses durchführt.“

 

Auch in späteren Jahren hat sich die ILO im Rahmen des regelmäßigen Überwachungsverfahrens mit der Entwicklung der Berufsverbote beschäftigt. Die entsprechenden „Beobachtungen“ können auf den ILO-Datenbanken nicht mehr gefunden werden, das Verfahren gilt inzwischen als „geschlossen“ (closed). In englischer Sprache können die „Beobachtungen“ für die folgenden Jahre hier noch heruntergeladen werden: (einzeln für 1988 - 1989 - 1991199219931994199619982000). Auch die Behandlung ehemaliger DDR-Bürger/innen im öffentlichen Dienst wird dort thematisiert. Die ab 1990 um das „Beitrittsgebiet“ vergrößerte Bundesrepublik Deutschland musste auch darüber dem Überwachungsgremium der ILO bis 1999 regelmäßig Bericht erstatten. Wer sich mit diesem Thema beschäftigt, sollte diese „Beobachtungen“ sorgfältig studieren.

 

Das ILO-Überprüfungsverfahren funktioniert also anders - umständlicher, langwieriger - als die gerichtliche Überprüfung eines Verstoßes gegen EU-Recht oder gegen die Menschenrechtskonvention. Trotzdem hat es eine sehr hohe internationale Autorität und entfaltet Bindungswirkungen für das innerstaatliche Recht - das wird aber trotzdem meistens ausgeblendet.

 

Einen sehr erhellenden Überblick über das Überprüfungsverfahren der ILO und zur Entwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – auch im Vergleich zueinander und in ihrer gegenseitigen Bedingtheit - enthält der Beitrag:

Klaus Samson (ehemaliger Koordinator für Menschenrechtsfragen, Abteilung Internationale Arbeitsnormen der ILO): Eine Rückschau auf die „Berufsverbote“: Was in Genf und Straßburg dazu gesagt wurde (englischsprachiger Originaltext: The “Berufsverbot” problem revisited – Views from Geneva and Strasbourg. In: Les normes internationales du travail: un patrimoine pour lavenir (Mélanges en l’honneur de Nicolas Valticos. Genève: Bureau international du Travail, 2004. ISBN 92-2-216555-1, pp.21-46)

 

Einen Überblick über die einschlägige Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland - auch unter dem Einfluss des ILO-Berichts - gibt der Beitrag von Klaus Dammann: Berufsverbote und Europäische Menschenrechtskonvention. Rechtliche und politische Konsequenzen. In: Ralf-M. Marquardt/ Peter Pulte (Hrsg.): Mythos Soziale Marktwirtschaft. Arbeit, Soziales und Kapital [Festschrift für Heinz-J. Bontrup] Köln: PapyRossa 2019 (ISBN: 978-3-89438-692-4), S. 107-122, und: Heinz-Jung Stiftung (Hrsg.): Wer ist denn hier der Verfassungsfeind? Radikalenerlass, Berufsverbote und was von ihnen geblieben ist. Köln: PapyRossa 2019 (ISBN 978-3-89438-720-4) S. 90-100. (Der im Januar 2020 verstorbene Autor hat im Lauf der Jahrzehnte zahlreiche Betroffene vertreten und an den einschlägigen Verfahren bei der ILO und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte persönlich mitgewirkt. Der genannte Text lag auch verschiedenen Vorträgen zugrunde, die er bis kurz vor seinem Tod gehalten hat.) Verschiedene Gerichtsurteile, die es ausdrücklich ablehnen, die ILO-Vorgaben zu berücksichtigen, sind ein Teil des von der ILO diagnostizierten Problems.