Franz Josef Degenhardt: (1931-2011)

 

Belehrung nach Punkten

Vorrede:
Die Berufsverbotspraxis hat hier eine lange Tradition:
Ausgehend von den Karlsbader Beschlüssen von 1819 gegen revolutionäre Umtriebe, demagogische Verbindungen und geistige Vorbereitungen des Umsturzes, über die preußische Notverordnung von 1849 gegen unzuverlässige Elemente, über die Sozialistengesetze von 1878 gegen sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Umtriebe bis zu den Berufsverboten von 1933 und 1972 gegen Lehrer, Ärzte, Ingenieure und so weiter, die keine Gewähr dafür bieten, jederzeit voll einzutreten für den nationalen Staat beziehungsweise die freiheitlich-demokratische Grundordnung.


Praxis 1976:
Belehrung eines Lehramtskandidaten
im Rahmen eines Anhörungsverfahrens
durch einen Herrn aus Bonn ohne falschen Bart
in Anwesenheit eines Regierungsdirektors, SPD.

Solo des Herrn aus Bonn:

Bitte, um es gleich zu sagen: Wir sind hier für Offenheit.
Wird soviel hineingeheimnisst -
so Gesinnungsschnüffelei ’so weiter -
trifft die Sache nicht.
Sie zum Beispiel wollen Lehrer werden,
wollen also was von uns.
Also werden wir Sie prüfen,
ist doch logisch.
Staatsumkrempler, Radikale,
Revolutionäre mit Gehältern nach A13
und Pensionsansprüchen machen wir natürlich nicht.
Also, hier ist Ihre Akte. Rein beruflich alles bestens.
Erste Lehramtsprüfung: sehr gut.
Sind kontaktstark und belastbar,
halten sich zurück in Ihrem Urteil,
und Sie sind kollegial. Na bitte!
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[Anhören auf youtube,
mp4 lokal - flv lokal]

Aber das genügt uns nicht, denn hier kommt es darauf an:
Bieten Sie Gewähr, voll einzutreten jederzeit
für diese freiheitliche und so weiter, na Sie wissen schon!

Na, und hier in Ihrer Akte -
das gibt’s jetzt in jeder Akte - die Bewertungskarte PPD;
das ist die politische Personaldatei.
Haben wir uns ausgedacht.
Echter Fortschritt, Punktbewertung, Lochkartensystem und
Praktisch so wie die Verkehrssünderkartei.
Das objektiviert die Sache ganz enorm.
Und damit ist der Gleichheitsgrundsatz
bestens garantiert und ist alles demokratisch, haha.
Und so funktioniert die Sache:
Jeder Minuspunkt ein Loch, und ist die Minuspunktzahl von 45
dann erreicht, dann: Juppdika und ratata:
der Datenspeicher wirft die Karte aus,
und wir wissen: Wieder mal ein Radikaler,
bietet nicht Gewähr, voll einzutreten jederzeit
für diese freiheitliche und so weiter, na Sie wissen schon!

Aber gibt ja nicht nur Löcher, Pluspunkte, die gibt es auch.
Also Beispiel, angenommen, jemand macht bei einer RP-Demo mit,
das ist eine Rote-Punkt-Demonstration,
so gegen hohen Fahrpreis und so weiter,
na sie wissen schon,
das macht 13 Minuspunkte, trotzdem wählt der CDU.
Ist natürlich an den Haaren 'beigezogen, aber
möglich ist natürlich heute alles.
Was? Woher man wissen will, was einer wählt?
Haha, jetzt machen Sie uns aber wirklich Witze.
Also nochmal: jemand macht bei einer RP-Demo mit,
das macht 13 Minuspunkte
trotzdem wählt der CDU, und das macht 13 Plus
und -juppdika- schon ist der praktisch
wieder ein ganz unbeschriebnes Blatt,
das heißt, der
bietet die Gewähr, sich jederzeit voll einzusetzen
für die freiheitliche und so weiter, na Sie wissen schon!

So, und jetzt zu Ihnen ganz konkret.
Und was sehn wir da zunächst mal?
Diese 20 Löchlein. Das sind fünfmal Ihre Unterschriften:
Gegen Rüstung und das neue Chile und Berufsverbote,
für das neue Portugal und für den 1.Mai mit Kommunisten.
Dazu kommen 13 Minuspunkte für Versammlungsstörung -
Zwischenrufe und so weiter, na, Sie wissen schon.
Ganz egal, ob NPD, ob CDU,
darauf kommt es hier nicht an.
So, und nochmal 7 Minuspunkte für ’ne Demo Umweltschutz.
Wie bitte? Unpolitisch? Dabei sind doch immer Kommunisten.
So, das macht schon 40 Minuspunkte,
Dazu kommen fünfe,
weil Sie in ’ner Wohngemeinschaft leben.
Nix da, nix da, das ist billiger als Einzelzimmer.
So schlau sind wir auch.
Unter einer Decke stecken, Zellen bilden,
darauf läuft das doch hinaus.
Also macht summa summarum 45 Minuspunkte,
und das heißt: Sie sind ein Radikaler,
bieten nicht Gewähr, voll einzutreten jederzeit
für diese freiheitliche und so weiter, na Sie wissen schon!

Na, nu lassen Sie den Kopf nicht hängen.
Ist ja noch nicht alles aus.
Hier ist nämlich unser Vorschlag:
Oder, warum meinen Sie, erklär’ ich Ihnen alles so genau?
Vorschlag also der:
Sie hängen noch ein paar Jährchen dran,
sammeln ein paar Pluspunkte, paar schöne,
daß Sie wieder runterkommen, so auf 10 bis 20 Punkte.
Das genügt uns schon.
Na, und was Sie machen sollen? Hören Sie sich ein bißchen um
bei Kollegen und so weiter, was man redet und so weiter,
na, Sie wissen schon.
Halt, wo wollen Sie denn hin? Laufen Sie nicht weg.
Läuft der raus! Na, ich sag ja: Radikaler!
Bietet nicht Gewähr, voll einzutreten jederzeit
für diese freiheitliche und so weiter, na Sie wissen schon!


Das Gedicht »Belehrung nach Punkten« erschien zuerst 1975 auf der LP »Mit aufrechtem Gang«.
Wir danken dem Kulturmaschinen-Verlag Berlin für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung. Im Verlag erscheint u.a. eine zehnbändige Gesamtausgabe der Werke Franz Josef Degenhardts.