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Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG STADTAUSGABE (Nr. 55) vom Dienstag, den 06. März 2012, Seite Nr. 26

Freiheitlich-demokratische Unordnung

Zeitgeschichte. Vor 40 Jahren haben die Ministerpräsidenten der Länder den Radikalenerlass beschlossen. Vor allem Lehrerinnen und Lehrer waren davon betroffen. Heute regiert ein Pädagoge Baden-Württemberg, der zweimal von Berufsverbot bedroht war: Winfried Kretschmann.
Von Hermann G. Abmayr

Es war kurz vor den Sommerferien, als Sigrid Altherr-König erfuhr, dass sie als Lehrerin nun endgültig in diesem Staat nicht mehr erwünscht sei. Ein Gericht hatte in letzter Instanz entschieden, dass sie aus dem Schuldienst entfernt werden müsse. Sie biete keine Gewähr dafür, jederzeit auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stehen. Nicht einmal die letzten drei Schultage durfte Sigrid Altherr-König vor ihre Klasse treten, da sie die Schüler mit verfassungsfeindlichen Inhalten hätte indoktrinieren können. Und die Grund- und Hauptschule Aichwald musste den Kindern und deren Eltern erklären, was die junge Frau verbrochen hatte.

Wenn Sigrid Altherr-König heute über diese Zeit spricht, merkt man immer noch ihre große Anspannung. Seit ihrer ersten Dienstprüfung 1976 habe sie sieben Jahre lang dafür gekämpft, Kinder unterrichten zu dürfen. Zweimal ist sie in dieser Zeit entlassen und dann wieder eingestellt worden. „Nie konnte ich länger an einer Schule bleiben, ständig hatte ich Angst“, sagt die 58-Jährige. „Hält denn eine Demokratie nicht ein paar kritische Bürger aus?“

Hermann Wilhelm, 75, war seinerzeit Religionslehrer am Stuttgarter Schickhardt-Gymnasium sowie Kreisvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Er unterstützte Altherr-König, die sich freut, Wilhelm „erstmals nach so langer Zeit“ wiederzutreffen: „Erinnerst du dich noch an die Kundgebung, die wir organisiert haben?“, fragt sie.

Wilhelm ist ein prinzipienfester Mann. „Berufsverbot ist Unrecht“, sagt er. „Da wollte ich gar nicht wissen, wo der Einzelne politisch stand.“ Für Wilhelm sind Gesinnungsurteile und Demokratie nicht vereinbar. Das Problem sei auch die Justiz gewesen, die den Begriff Verfassungsfeind übernommen und damit ausschließlich die Gesinnung geprüft habe. Doch nach Artikel drei des Grundgesetzes dürfe niemand wegen seiner politischen Anschauung benachteiligt werden. Genau dazu habe der Radikalenerlass aber geführt.

Sigrid Altherr wurde 1976 bei ihrer ersten Anhörung im Oberschulamt vorgeworfen, sie habe bei den Wahlen zur Studentenvertretung an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg für den Marxistischen Studentenbund Spartakus kandidiert. Bei einer von vielen weiteren Anhörungen fragte man sie, warum sie Schmalzbrote an einem Stand der Deutschen Kommunistischen Partei geschmiert habe.

„Das waren Spitzelberichte wie bei der Stasi“, sagt Hermann Wilhelm. „Der Verfassungsschutz hat bei Versammlungen linker Organisationen sogar die Autonummern der Teilnehmer fotografieren lassen.“

Im Herbst 1976 wollte Sigrid Altherr ihr Referendariat beginnen. Doch die Einstellung verzögerte sich. Jeden Tag erwartete sie eine Nachricht vom Oberschulamt. Jeden Tag ging sie mit gemischten Gefühlen zum Briefkasten. Erst am Nikolaustag kam schließlich der erlösende Anruf: sie solle am Montag in der Ameisenbergschule in Stuttgart anfangen.

Auch der heutige baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der in Stuttgart-Hohenheim Biologie und Chemie für das Lehramt studiert hat, kandidierte Anfang der 70er Jahre auf Listen von kommunistischen Studentengruppen für das Studentenparlament. Zeitweise war er Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA). 1975 legte Kretschmann die erste Dienstprüfung ab, er wurde zum Studienseminar nach Esslingen und ans dortige Mörike-Gymnasium geschickt.

Doch einen Tag vor der Vereidigung teilte ihm das Oberschulamt mit, er könne „nichteingestellt werden, da die Überprüfung noch nicht abgeschlossen ist“ – so stand es damals in einer Dokumentation, die 64 Berufsverbotsfälle in Baden-Württemberg beschrieb. Ein schwarzer Tag für den Lehramtsanwärter Kretschmann, der im selben Jahr Gerlinde Kienle geheiratet hatte und Vater eines Mädchens geworden war. Im Studienseminar solidarisierte man sich mit dem vermeintlichen Verfassungsfeind: 144 von 166 Referendaren des Kurses forderten seine sofortige Einstellung.

„Es herrschte ein Klima der Angst“, erinnert sich Hermann Wilhelm. „Die Leute haben sich im Lehrerzimmer oft nicht mehr getraut, ihre Meinung zu sagen.“ Die GEW habe die jungen Kollegen beraten, die vom Radikalenerlass betroffen waren. Er sei deshalb gelegentlich zu Versammlungen nach Esslingen gefahren und habe dort auch Winfried Kretschmann getroffen.

„Die GEW hat Solidaritätsaktionen organisiert und uns Rechtsschutz gewährt“, erzählt Sigrid Altherr-König. „Ohne die Hilfe der Gewerkschaft hätte ich in dieser Zeit nicht durchgehalten.“

Ausgerechnet der SPD-Bundeskanzler Willy Brandt, der in seiner Regierungserklärung 1969 noch „mehr Demokratie wagen“ wollte, hatte dem Radikalenerlass zugestimmt, der bei einer gemeinsamen Sitzung mit den Regierungschefs der Bundesländer am 28. Januar 1972 beschlossen worden war. „Mit am Tisch saß der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger“, erinnert sich Sigrid Altherr-König, die mit einer Filbinger-Tochter zur Schule gegangen war. Wenige Jahre später musste Filbinger wegen seines Verhaltens als grausamer Jurist in der Nazizeit zurücktreten.

Die zwei zentralen Sätze des Radikalenerlasses lauteten: „Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche und demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages.“ Diese Grundsätze galten für Beamte, Arbeiter und Angestellte im gesamten öffentlichen Dienst. Deshalb waren auch Beschäftigte der Bundesbahn, der Bundespost oder der Arbeitsämter betroffen. Zum Beispiel Lokführer, Briefträger und Arbeitsberater.

Mit dem Erlass wurde die sogenannte Regelanfrage eingeführt. Wer in den Staatsdienst wollte, der wurde durchleuchtet. Bilanz, je nach Quelle: 1,4 oder gar 3,5 Millionen Anfragen beim Verfassungsschutz. Offizielle Zahlen gibt es nicht.

Außerdem hat dieses Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte bisher niemand wissenschaftlich aufgearbeitet. 11 000 Anhörungs- und 2200 Disziplinarverfahren soll es gegeben haben. 1250mal sind Bewerberinnen und Bewerber aus politischen Gründen abgewiesen worden. 265 Staatsbedienstete hat man entlassen.

Zum Beispiel den Gymnasiallehrer Fritz Güde, Sohn des einstigen Generalbundesanwalts und CDU-Bundestagsabgeordneten Max Güde. Güde gehörte wie der etwas jüngere Winfried Kretschmann dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) an. Er verließ die maoistische Kaderpartei–ebenfalls wie Kretschmann –Mitte der 70er Jahre. Doch das genügte den Behörden nicht. Sie warfen ihm vor, nur zum Schein ausgetreten zu sein. Vielleicht war Güde aber nur nicht unterwürfig genug. Er gab nämlich zu Protokoll, dass er nicht sämtliche – Betonung auf sämtliche – Aussagen des KBW für falsch halte.

Der Fall empörte damals auch Prominente wie den Fernsehjournalisten Franz Alt („Report Baden-Baden“). In einem offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl schrieb das damalige CDU-Mitglied Alt: „Nach wie vor ist Fritz Güde, der Sohn unseres Parteifreundes Max Güde, arbeitslos. Er darf nicht Lehrer sein, weil er früher einmal (!) Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands war.“ Alt verglich den Fall mit der Praxis in den osteuropäischen Ländern, wo „engagierte Christen nicht Lehrer werden dürfen“.

Winfried Kretschmann durfte schließlich sein Referendariat antreten. Doch wenige Monate vor seiner zweiten Prüfung erfuhren Kollegen am Friedrich-Eugens-Gymnasium in Stuttgart, wo er inzwischen unterrichtete, dass der junge Mann nicht in den Schuldienst übernommen werden sollte. Der Personalrat und GEW-Vertrauensmann Herwig Janicek verfasste ein Protestschreiben, sammelte Unterschriften und schickte sie an das Kultusministerium: „Wir kennen Herrn Kretschmann als ruhigen, zurückhaltenden, vernünftigen und in keiner Weise ‚radikalen‘ Kollegen.“ Er habe versichert, „dass er nicht einer der von den Behörden als ‚verfassungsfeindlich‘ eingestuften Organisationen angehört“. Janicek und seine Kollegen baten „deshalb dringend, Herrn Kretschmann ins Beamtenverhältnis auf Probe mit vollem Lehrauftrag zu übernehmen“.

Auch der damalige Leiter des Esslinger Studienseminars, der FDP-Mann Waldemar Bauer, setzte sich für Kretschmann ein. Ebenso George Turner: „Denn erstens war der Kretschmann nicht mehr in diesem Verein und zweitens habe ich ihn als sehr zuverlässig kennengelernt“, erinnert sich Turner, seinerzeit Präsident der Universität Hohenheim. Er habe den AStA-Vorsitzenden Kretschmann einmal zum Abendbrot zu sich eingeladen – das Haus lag in der Nähe der Villa Reizenstein, wo heute der grüne Ministerpräsident regiert. Turners Sohn Sebastian (also jener Sebastian Turner, der nun Oberbürgermeister in Stuttgart werden will) saß damals auf dem Schoß des Studentenvertreters Winfried Kretschmann. „Das war ein nettes Gespräch“, sagt George Turner. „Kretschmann hat sich tadellos benommen.“

Trotz der Unterstützung durch Turner, Bauer, die Gewerkschaft und die Lehrerkollegen bekam Kretschmann nach dem bestandenen pädagogischen Staatsexamen zunächst keinen Platz an einem staatlichen Gymnasium. Er musste an einer Privatschule unterrichten, an der Stuttgarter Kosmetikschule in der Werastraße 10, später SPD-Kreisbüro, heute das Domizil von Peter Grohmanns Anstiftern. Die damalige Schulinhaberin Brigitte Brüggestrat erinnert sich: „Kretschmann war so rot, wie es nur ging. Doch er war der beste Pädagoge, den ich je hatte.“ Und als er wieder einmal zu einer Anhörung zum Oberschulamt gehen musste, ermahnte ihn Brüggestrat: „Zieh bloß einen Anzug an.“ Schließlich schaffte Kretschmann doch noch den Sprung in die staatliche Schule. Im Herbst 1978 begann er am Theodor-Heuss-Gymnasium in Esslingen zu unterrichten.

Kretschmanns früherer Kommunistischer-Bund-Westdeutschland-Genosse Güde musste hingegen noch einige Jahre warten. „Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat ihm 1982 recht gegeben“, erinnert sich Hermann Wilhelm, der damals selbst einer der Laienrichter war.

Sigrid Altherr-König indes verlor ein Jahr später ihre Prozesse in letzter Instanz und musste die Schule in Aichwald drei Tage vor den Sommerferien verlassen. Sie ließ sich zur Industriekauffrau ausbilden und arbeitete bei der Maschinenfabrik Schaudt in Stuttgart-Hedelfingen. Einige Jahre nach der Wende verließ sie die DKP. „Ich war blind, was bestimmte Entwicklungen betrifft“, sagt sie.

Sigrid Altherr-Königs berufliche Wende fand 1995 statt, als der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg die Bundesrepublik zur Zahlung von Schadenersatz verurteilte. Geklagt hatte die Lehrerin Dorothea Voigt, die aus dem Staatsdienst aus politischen Gründen zu Unrecht entlassen worden war. Der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte sie als Anwalt in den Vorinstanzen vertreten.

Nach dem Straßburger Urteil schrieb Altherr-König der Kultusministerin Annette Schavan, heute Bundesministerin für Bildung und Forschung. Da das Ministerium nicht antwortete, schaltete Altherr-König die GEW ein. Zweimal bestellte das Oberschulamt die Lehrerin dann erneut ein, um ihre Verfassungstreue zu prüfen. 1996 durfte die inzwischen 43-Jährige erstmals wieder unterrichten, 1997 wurde sie verbeamtet – zwei Jahrzehnte später als Winfried Kretschmann.

„Entschuldigt hat sich bis heute niemand bei uns“, sagt Sigrid Altherr-König. „Und eine Entschädigung haben wir auch nicht bekommen. Mir fehlen jetzt jedenfalls 13 Pensionsjahre.“

© 2012 STUTTGARTER ZEITUNG




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