In Bayern scheint alles noch wie früher (und stets noch heftiger als anderswo). Wie lange noch?

 

NEUERE FÄLLE: Über Probleme eines bayerischen Lehramtsanwärters berichteten die „Süddeutsche Zeitung“ am 09.03.2018 (pdf) und Neues Deutschland am 19.03.2018 (pdf lokal). Wie es ausging, wie der bayerische Eischüchterungsmechanismus funktioniert, meldete die Süddeutsche Zeitung am 19.03.2018 (pdf) und am 21.03.2018 (pdf) Wir dokumentieren diesen „Fall“ auf einer eigenen Sonderseite, ebenso die verzögerte Einstellung des Doktoranden Kerem Schamberger 2016 an der Münchner Universität.

 

Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976) hätte in Bayern Berufsverbot bekommen. Als er 1966 im Kabinett unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger als SPD-Bundesjustizminister berufen wurde, war er noch im Jahresbericht des „Bundesamts für Verfassungsschutz“ als „kommunistisch beeinflusster Neutralist“ aufgeführt. Denn er hatte – ebenso wie der spätere Bundespräsident Johannes Rau - der 1952 bis 1957 bestehenden Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) angehört, die programmatisch als Vorläuferin der 1960 gegründeten Deutschen-Friedens-Union (DFU) gelten kann. Neben den Kommunisten waren solche politischen Formationen (und erklärte Pazifisten) die einzigen, die in jener Zeit eine Außenpolitik der „friedlichen Koexistenz“ propagierten – und damit direkt ins Feindbild des bayerischen „Verfassungsschutzes“ rückten. Auch und gerade zu einem Zeitpunkt, als diese längst offizielle Politik der SPD und Bundesregierung war.

„Tragikomischerweise versuchen die gegnerischen Schriftsätze, Herrn B., die DFU, die DFG-VK und Gewerkschaften mit den aufwendigsten und angestrengtesten Nachweisen zu überführen, dass ihr Verständnis der friedlichen Koexistenz dem der verbindlichen, von der BRD wie der DDR, von Kapitalisten und Kommunisten gleichermaßen unterschriebenen Helsinki-Schlussakte entspricht“ ... Der das Völkerrecht ausblendende Unsinn über die friedliche Koexistenz, gegen den Rechtsanwalt Hans E. Schmitt-Lermann (München) am 06.11.1985 vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (unter Vorsitz eines des SPD angehörenden Richters) polemisieren musste (Auszüge aus dem Plädoyerpdf), ist noch heute in der deutschsprachigen Wikipedia unter dem gleichnamigen Stichwort zu finden.

 

Im Freistaat Bayern kann die Berufsverbote-Drohkulisse auch noch heute wie in einem Museum besichtigt werden. Schmitt-Lermann wies in einem Leserbrief an die "Süddeutsche Zeitung" vom 03.02.2012 darauf hin, "dass hier (wie in Baden-Württemberg) die Kommunisten zwar die am schwersten, aber keineswegs die meisten Betroffenen waren. Fast 70% gehörten den Organisationen der Friedensbewegung (darunter Religionslehrer) oder der linken SPD (Sozialdemokratischer Hochschulbund, streitbare Gewerkschafter) an." (Vollständiger Wortlaut). Als Schmitt-Lermann 1976 die bayerische Verwaltungsjustiz mit 22 Gutachten über das Verfassungsverständnis einer Lehramtsbewerberin konfrontierte, darunter 4 von ehemals am KPD-Urteil mitwirkenden Bundesverfassungsrichtern, allesamt positiv, wurde seine Mandantin trotzdem auch in der höheren Instanz abgelehnt, ein „Offenbarungseid der Berufsverbots-Rechtsprechung“, über den DER SPIEGEL 16/1982 berichtete (pdf) (pdf lokal).

 

Ex verwundert also nicht, welche Art von  Formularen Bewerber/inne/n für den öffentlichen Dienst heute noch zum Ausfüllen vorgelegt werden. Sie können beispielsweise von der Website der Universität Erlangen-Nürnberg heruntergeladen werden, laut der sie "in allen Fällen" "für den Abschluss des Arbeitsvertrags unerlässlich" sind:

 

A1013: „Belehrung“, „Fragebogen“ und „Erklärungen“ (pdf lokal)

• Dazu eine englische Ausfüllanleitung (pdf lokal) „to verify faithfulness to the German Constitition“ (früher mit einer inzwischen anscheinend nicht mehr übersetzten Organisationsliste)

 

Da soll man also ankreuzen: „Sind oder waren Sie Mitglied“ bzw. „Unterstützen Sie oder haben Sie jemals unterstützt?“ - und dann ist von „extremistischen oder extremistisch beeinflussten Organisationen oder anderen verfassungsfeindlichen Bestrebungen“ die Rede, „ja/nein“.

 

Und beigefügt ist eine lange Organisationsliste (pdf lokal) mit einer politisch falschen, beleidigenden Gleichsetzung von Linken und Antifaschisten mit Neonazis, in deren aktueller Fassung neben der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA auch die Jugendorganisationen der Partei DIE LINKE aufgeführt sind. (In einer früheren Fassung war die jahrelang von Oskar Lafontaine geführte Partei selbst genannt. Der war - zehn Jahre nach Franz Josef Strauss - immerhin mal ein aussichtsreicher Bundeskanzlerkandidat gewesen und hätte also - genauso wie Heinemann - Probleme in Bayern bekommen.)

 

Schließlich wird in die Soße der vom bayerischen „Verfassungsschutz“ definierten political (un)correctness auch noch die Scientology-Kirche eingerührt. Dieser war eine eigene „Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung vom 29. Oktober 1996 Nr. 476-1-160“ und sind eigene Formulare gewidmet: A1014: „Fragebogen zu Beziehungen zur Scientology-Organisation(pdf lokal) und englische Ausfüllanleitung (pdf lokal)

 

In einer auf dem "Fragebogen" auszugsweise abgedruckten "Bekanntmachung der Staatsregierung betr. Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst vom 3. Dezember 1991", deren letzte Fassung vom 27. November 2007 stammt, sind die Voraussetzungen der "Regelanfrage" beim "Landesamt für Verfassungsschutz" benannt. Eine solche findet statt, wenn jemand sich durch entsprechende Angaben gewissermaßen selbst belastet, aber auch dann, wenn jemand sich überhaupt weigert, das diskriminierende Formular auszufüllen, oder "aufgrund anderer bekannt gewordener Tatsachen" (also ein Türöffner für eigenständiges Vorgehen von Schlapphüten und Denunzianten jeder Art).
Staatenlose Bewerber/innen und solche aus einer langen Liste von Staaten inklusive "Israel (Personen mit palästinensischer Volkszugehörigkeit)" wecken automatisch "Zweifel daran, dass der Bewerber jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinn des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung eintritt".
Bei ehemaligen DDR-Bürger/inne/n ("Beitrittsgebiet"), soweit vor 1972 geboren, wird in jedem Fall bei der Staatssicherheits-Unterlagen-Behörde nachgefragt, und selbst die beim "Verfassungsschutz" immerhin formulierte Einschränkung, dass nur "Tatsachen ... die gerichtsverwertbar sind" mitgeteilt werden sollen, gilt hier nicht.
Noch am 14.06.2012 hat das bayerische Innenministerium gegenüber dem Deutschlandfunk bestätigt, dass diese Formulare verwendet werden und beispielsweise auch eine Mitgliedschaft in der Partei DIE LINKE "Zweifel" an der Verfassungstreue begründen und zu einer Anfrage beim "Verfassungsschutz" führen könne (nachzuhören als mp3).

 

Was ist davon zu halten?

 

Die Betreiber dieser Website verfügen derzeit über keine Angaben zu den heutigen praktischen Auswirkungen - von Einzelfall-Schilderungen abgesehen, die wohl eher als die Spitze des Eisbergs anzusehen sind. Gelegentlich hören wir von Lehrerinnen und Lehrern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an eine Bewerbung oder Versetzung nach Bayern dachten, aber nach Kenntnisnahme dieser Formulare um dieses Bundesland einen großen Bogen machten. In Zeiten eines (in Teilbereichen) wachsenden Lehrermangels und der Suche nach qualifiziertem wissenschaftlichem Personal aus aller Welt für seine Hochschulen schneidet sich der Freistaat damit ins eigene Fleisch. (Eine kanadische Gastprofessorin, die aus München umgehend in ihre Heimat zurückkehrte, weil sie diese Art von Befragung so ungeheuerlich fand, gab es tatsächlich mal.)
Muss man sich durch Ankreuzen von "ja" auf einem solchen Formular dessen Logik (und Bewertungen von "extremistisch"/"verfassungsfeindlich") überhaupt zu eigen machen?
Hat die ganze Befragung womöglich einen ähnlichen Charakter wie "Haben Sie vor, demnächst schwanger zu werden?" bei einem Einstellungsgespräch? (Da darf eine Frau bekanntlich erzählen, was sie will, denn eine solche diskriminierende Frage ist absolut unzulässig ...)
Spannende Fragen ...

 

Wer potentiell betroffen ist und solche Formulare ausfüllen soll, sollte sich immer von seiner Gewerkschaft und/oder Rechtsanwälten beraten lassen!
Und bitte auch bei uns melden: kontakt@berufsverbote.de

 

Die folgende Überlegung kann naturgemäß nur eine politische Einschätzung juristischer Laien sein.

 

Wir vermuten, dass die bayerische Richtlinienpraxis wahrscheinlich keinen Bestand hätte, wenn sie auf den Prüfstand des AGG (pdf) und der EU-Richtlinie 2000/78/EG (pdf) gestellt würde (vgl. dazu unseren Kommentar). Auch Bayern gehört schließlich zur Bundesrepublik Deutschland und zur EU.
Aber es müsste sich erst einmal eine Person finden, die sich in Bayern bewirbt, abgelehnt oder aufgrund "falscher" Angaben entlassen wird, die Diskrimierung beweisen kann und dann – zunächst vor einem bayerischen Gericht! - dagegen vorgeht. Vielleicht finden sich irgendwann solche Mutigen mit guten Nerven und einem guten Rechtsschutz?
(Mit Unterlaufungsstrategien der Behörden zur Verschleierung der Diskriminierung, zum Beispiel in Form plötzlich drastisch schlechterer Benotungen und Leistungsbewertungen, müsste dann natürlich auch gerechnet werden.)
Aber vielleicht kommt es doch noch – wie 2000 halbherzig in Baden-Württemberg – zu einer politischen Aufhebung dieser Praxis? Die Tage der unangefochtenen CSU-Alleinherrschaft sind seit 2008 beendet. Auch in Bayern sollte man nachdenken über die Folgen der politischen Arroganz, die in Baden-Württemberg 2011 zu der vorher für unvorstellbar gehaltenen Abwahl der CDU aus der Landesregierung nach 58 Jahren führte ...