Bremen hat den „Radikalenerlass“ schon 2011/12 beseitigt und aufgearbeitet

Während in Baden-Württemberg die Regierungsparteien sich hinter einer wissenschaftlichen Aufarbeitung verstecken, um nichts zu tun, lief es im Bundesland Bremen (zu dem auch das 60 km von der Stadt Bremen entfernte Bremerhaven gehört) genau umgekehrt.

 

2021 erschien neu das Buch

Sigrid Dauks, Eva Schöck-Quinteros, Anna Stock-Mamzer (Hg.): Staatsschutz - Treuepflicht - Berufsverbot - (K)ein vergessenes Kapitel der westdeutschen Geschichte. Unter Mitarbeit der Studierenden des Projekts „Aus den Akten auf die Bühne“. Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ Band 12. Universität Bremen, Institut für Geschichtswissenschaft 2021. ISBN 978-3-88722-757-9 (lieferbar z.B. über die Universitätsbuchhandlung Bremen unibuch-bremen.de)

 

Aus dem Klappentext: „In dem Band sind neun Einzelfälle dokumentiert. Die Beiträge der Studierenden befassen sich mit einzelnen Biografien (Horst Holzer, Antje Linder), der GEW und der Rehabilitierung. ... Dominik Rigoll ordnet den Radikalenerlass in die westdeutsche Geschichte ‚von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr’ ein. Am Beispiel Hamburg. fragt Alexandra Jaeger, wie die der Beschluss zur These einer fortschreitenden Liberalisierung der Bundesrepublik passt.“

 

Der Band ging hervor aus einem Projekt szenischer Lesungen der Bremer Shakespeare Company, dessen Initiatorin, die Bremer Historikerin Dr. Eva Schöck-Quinteros 2019 vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier am 22. Mai 2019 im Rahmen einer Feierstunde unter dem Motto Demokratie ganz nah – 16 Ideen für ein gelebtes Grundgesetz: Matinee und Ordensverleihung“ zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen bekam. „Geehrt wurden damit aus den 16 Bundesländern Bürgerinnen und Bürger für ihr herausragendes Engagement in der politischen Bildung und bei der Vermittlung der Werte des Grundgesetzes.“

 

2018 erschien online die Untersuchung

Jan-Hendrik Friedrichs: „Was verstehen Sie unter Klassenkampf?“ Wissensproduktion und Disziplinierung im Kontext des „Radikalenerlasses“ In: Sozial.Geschichte Online / Heft 24 / 2018 (pdf). DuEPublico Dokumenten- und Publikationsserver der Universität Duisburg-Essen, Dezember 2018. (Der Verfasser hatte bereits 2005 eine unveröffentlichte Magisterarbeit zum Thema verfasst.)

 

Bereits ab 2011 hatte die Politik gehandelt:

Die SPD/GRÜNE-Koalition in Bremen erklärte in ihrem Koalitionsvertrag 2011-15, der am 28.06.2011 unterzeichnet wurde:„Wir werden die bremischen Regelungen zum ‚Radikalenerlass’ aus den 70er Jahren überprüfen und gegebenenfalls aufheben. Mit den Betroffenen werden wir ein abschließendes Einvernehmen anstreben.“

Auf Initiative von Hermann Kuhn wurde folgender Antrag in der Bremischen Bürgerschaft am 10.11.2011 eingebracht und dort einstimmig - also ausdrücklich auch mit den Stimmen der CDU - beschlossen: (Protokollauszug als pdf):

Am 28. Januar 1972 haben die Ministerpräsidenten der Länder und der Bundeskanzler die „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“, allgemein „Radikalenerlass“ genannt, beschlossen. Einige Jahre später wurden diese Grundsätze durch ländereigene Regelungen konkretisiert, in Bremen 1977 durch das „Verfahren bei Feststellung des Erfordernisses der Verfassungstreue von Bewerbern für den öffentlichen Dienst“, verändert durch Senatsbeschluss im Jahr 1983. Dieser Erlass ist bis heute formal in Kraft.
In Umsetzung des Radikalenerlasses und ergänzender Landesregelungen sind in Bremen vor allem in den siebziger und achtziger Jahren mindestens 70 im öffentlichen Dienst Beschäftigte bzw. Bewerberinnen oder Bewerber an der Ausübung eines Berufs gehindert worden oder haben andere Einschränkungen und Nachteile erlitten.
Der Radikalenerlass und die daraus folgende Praxis der politischen Überprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern für den Staatsdienst waren nicht nur in Deutschland von Beginn an umstritten; auch im europäischen Ausland wurden sie heftig kritisiert. Denn nach dem Radikalenerlass wird nicht konkretes, ggf. strafbares, Handeln der Beschäftigten im öffentlichen Dienst beurteilt, sondern aus der reinen Mitgliedschaft in einer Organisation abgeleitet, dass Beschäftigte oder Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst nicht tragbar seien.
Bereits am 26. September 1995 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass der Radikalenerlass in Bezug auf bereits eingestellte öffentliche Bedienstete einen Verstoß gegen die Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt. Willy Brandt selbst nannte den Radikalenerlass später einen Fehler seiner Regierung, Helmut Schmidt stellte fest, dass mit „Kanonen auf Spatzen geschossen worden sei“. Der Radikalenerlass war ein politischer Fehler. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert seit dem letzten Handeln des Senats in diesem Zusammenhang, ist es deshalb an der Zeit, das Thema „Radikalenerlass“ in Bremen endgültig zu beenden.

Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:

"Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf, die „Richtlinien über das Verfahren bei Feststellung des Erfordernisses der Verfassungstreue von Bewerbern für den öffentlichen Dienst“, Fassung vom Februar 1983, aufzuheben.
Die Bürgerschaft (Landtag) bittet den Senat, in geeigneter Weise mit den Betroffenen einen ideellen Abschluß zu suchen."


Über die Umsetzung berichtete die tageszeitung (taz) am 16. 01. 2012:
Gesinnungspflichten - Noch gilt der Radikalenerlass
Nach 40 Jahren will der Bremer Senat heute den "Radikalenerlass" von 1971 abschaffen.
(Link zum Artikel auf taz.de) (pdf-File)

 

Den „Schlussstrich unter den Radikalenerlass“ verkündete dann am 17.01.2012 eine Pressemitteilung der Senatorin für Finanzen (PM auf senatspressestelle.de) (pdf-File). In diesem Sinn fanden Verhandlungen mit Betroffenen statt.

 

Auf der offiziellen Homepage bremen.de erschien am 17.02.2012 ein Beitrag:von Edith Laudowicz: 40 Jahre Radikalerlass - 40 Jahre Berufsverbot - Ein juristisches, politisches und menschliches Unrecht in einem demokratischen Staat. Eine Episode aus der Vergangenheit?

Die Dezember-Ausgabe 2011 der Bremischen Lehrerzeitung (BLZ) der GEW war dem Schwerpunktthema „Radikalenerlass“ gewidmet mit einer Einleitung von Barbara Larisch, Überlicksbeiträgen von Gerhard Baisch, Frank Behrens und Karlheinz Koke, Erlebnisschilderungen von Barbara Larisch und Frank Behrens und Interviews mit den Betroffenen Elin-Birgit Berndt, Ebba van Ohlen-Linke und Heidi Schelhowe.

 

Die GEW richtete im Rahmen des Arbeitskreises Geschichte des Landesverbandes der GEW Bremen eine Arbeitsgruppe Berufsverbote ein, die diese Thematik intensiv bearbeitete. „Wir sind uns darüber einig, dass dies in der gesamten Organisation nicht konfliktfrei zu bewältigen sein wird; aber die aktuelle Zusammenarbeit derer, die sich bis vor 30 Jahren noch im linken Lager politisch bekämpften, gibt uns die Gewissheit, dass dies ein richtiger Schritt ist“, heißt es in dem entsprechenden Beschluss des Geschäftsführenden GEW-Landesvorstands. Auch die damalige Rolle der Gewerkschaft und einiger ihrer FunktionärInnen wird kritisch beleuchtet und die Mitgliederrechte damals Ausgeschlossener wiederhergestellt.

 

Akten über die Berufsverbotsverfahren im Land Bremen vor dem Bremer Staatsarchiv

 

 

Die Erfassung und Aufarbeitung von 63 Bremer Fällenzeigt auf Seite 1 und Seite 2 der (anonymisierten) Übersicht, dass in 27 Fällen tatsächlich Berufsverbote verhängt wurden - Ziffer 1 oder 2 in der Rubrik Folgen. In den anderen Fällen gab es eine verzögerte Einstellung (3) oder das Verfahren nahm einen anderen Ausgang (4). Wo Prozesse geführt wurden - oft nach einem Austritt aus der betreffenden Organisation - ist dies unter Folgen mit P vermerkt. Interessant ist auch die Verteilung auf Organisationen (Spalte Org.) in diesem Bundesland. Man sieht, dass die Organisationskategorie 2 (KBW) die Mehrheit der hier dokumentierten Fälle ausmacht – eben jene Organisation, der seinerzeit Winfried Kretschmann nahestand, der später als baden-württembergischer Ministerpräsident die politische Aufarbeitung in diesem Bundesland blockierte.