Anti-Berufsverbote-Meeting und Landtagsanhörung zu Berufsverboten am 9. Oktober 2014 in Hannover
Kundgebung am Denkmal der wegen ihres Protests gegen Verfassungsbruch in früheren Zeiten mit Berufsverbot belegten „Göttinger Sieben“ vor dem Niedersächsischen Landtag.
Aktuell: Presseerklärung (pdf) der SPD-Landtagsabgeordneten Michael Höntsch und Bernd Lysack vom 01.12.2016: „Die Regierungskoalition hat mit ihrer Mehrheit heute im Innenausschuss beschlossen, dass eine Beauftragte bzw. ein Beauftragter unter Beteiligung von Betroffenen, Gewerkschaftsvertretern und Initiativen das Thema umfassend aufarbeiten soll“, ergänzt der SPD-Landtagsabgeordnete Bernd Lynack. Die Ergebnisse sollen im Weiteren im Rahmen der politischen Bildung in Niedersachsen verwendet werden. - Die mit 8:7 im Innenausschuss verabschiedete Beschlussvorlage soll noch im Dezember 2016 im Plenum des Landtags zur Abstimmung gestellt werden.
Über die „Thematisierung der Berufsverbote im Niedersächsischen Landtag“ berichtete zuvor Cornelia Booß-Ziegling in Heft 101 (März 2015) der Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z.
Am 9. Oktober 2014 fand im Niedersächsischen Landtag in Hannover eine Anhörung des Ausschusses für Inneres und Sport zum Thema „Radikalenerlass“ und Berufsverbote statt.
Vorausgegangen war eine von Matthias Wietzer eingeleitete Kundgebung vor dem Landtag (Bild oben) mit Redebeiträgen der Landtagsabgeordneten Meta Janssen-Kucz (Bündnis 90/Die Grünen) (Tonaufnahme) und Michael Höntsch (SPD) (Tonaufnahme), des für den DGB sprechenden GEW-Tarifsekretärs Rüdiger Heitefaut und des ehemaligen hannoverschen Ratsherrn Ludwig List (Tonaufnahme). (Podcast aller Redebeiträge)
Vor dem Landtagsausschuss gaben Lea Arnold vom DGB und Rüdiger Heitefaut von der GEW Stellungnahmen ab (Wortlaut) und stellten sich den Fragen der Abgeordneten. Sie machten auch konkrete Vorschläge zur politischen Aufarbeitung und materiellen Entschädigung, um „die Folgen einer durch die Berufsverbotepraxis lückenhaften Erwerbsbiografie auszugleichen.
· Prüfung von Nachversicherungsmöglichkeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung und deren Umsetzung durch das Land;
· Rentnerinnen und Rentnern, deren Renten unwiderruflich beschieden sind, über eine Fondslösung einen finanziellen Ausgleich ermöglichen;
· Anerkennung von Zeiten als ruhegehaltsfähig für Beamtinnen und Beamten im Dienst;
· Ruhestandsbeamtinnen und – beamten über die Fondslösung einen Nachteilsausgleich ermöglichen;
· Hinterbliebene (Ehe- und LebenspartnerInnen und Kinder) analog in die Fondslösung einbeziehen.
Ein solcher Fonds sollte durch das Land Niedersachsen finanziert werden.
Die Bearbeitung und Bewilligung von Anträgen und die Festsetzung der Entschädigungssummen sollten durch einen Beirat, dem Vertreterinnen und Vertreter von Betroffenen, dem Land und der Gewerkschaften angehören, erfolgen.“ „Gebt nicht nur gute Worte, gebt auch Geld“, hatte Rüdiger Heitefaut bei der Kundgebung gefordert.
Während die Beiträge von SPD (pdf) und GRÜNEN (pdf) sich klar für den Antrag aussprachen, kam Skepsis von der FDP und vor allem von der CDU (pdf), deren Abgeordnete Angela Jahns viel „Verständnis“ für damaligen politischen Entscheidungen aufbrachte. Zahlreiche Anwesende und auch Medienvertreter reagierten fassungslos und betroffen, als sich der CDU-Abgeordnete Rudolf Götz an die DGB-Vertreterin wandte mit der Frage: „Wie stehen Sie zur freiheitlich demokratischen Grundordnung?“ Hier lebte noch einmal der Geist des sog. „Radikalenerlasses“ auf. Und sozusagen als Gegenaktion hakte die CDU-Fraktion am 22.10.2014 nach mit einem Antrag, „Stasi-Machenschaften in Niedersachsen durch eine Enquete-Kommission aufarbeiten“ aufarbeiten zu lassen (pdf).
Cornelia Booß-Ziegling (Foto) stellte in ihrem Beitrag (Youtube-Mitschnitt) (Wortlaut) die Praxis, die gesellschaftlichen und individuellen Folgen der verfassungswidrigen Berufsverbote dar und formulierte vom Rednerpult des Niedersächsischen Landtages aus die Forderungen der Betroffenen nach historischer Aufarbeitung, Rehabilitierung und Entschädigung.
Für die Arbeit der einzurichtenden Landtagskommission boten der DGB, die GEW sowie Betroffene ihre konstruktive Mitarbeit an.
Ohne Angabe von Gründen nicht erschienen waren die von der CDU-Fraktion vorgeschlagenen reaktionären „Totalitarismus- und Extremismusforscher“ Eckhard Jesse (TU Chemnitz) und Uwe Backes (TU Dresden). Diese beiden Herren („Das verbreitete Schlagwort `Berufsverbot`verzeichnet krass die Wirklichkeit“) sind dafür bekannt, dass sie eng mit dem „Verfassungsschutz“ kooperieren. Der ebenfalls vorgeschlagene Prof. Dr. Dres. h.c. Josef Isensee hatte die Teilnahme abgelehnt mit der Begründung, der Antrag von SPD und Grünen sei „indiskutabel“. An der Nominierung solcher Gutachter hatte es im Vorfeld heftige Kritik gegeben: Sie seien „in der Vergangenheit als Rechtfertiger und Befürworter der verfassungswidrigen Berufsverbote in Erscheinung getreten. Die Benennung dieser ideologischen Kanoniere aus dem letzten Jahrhundert stellt nicht nur für uns eine Zumutung dar,“ erklärten Betroffene aus Niedersachsen.
Vom hannoverschen Internetradiosender Radio Flora gibt es einen informativen 45-minütigen Beitrag. Er ist als Podcast zu hören und kann als MP3-Datei heruntergeladen werden (Manuskript der Sendung, als doc-Datei). Neben dem ehemaligen Schüler Richard Plank und dem betroffenen Lehrer Matthias Wietzer kommt ausführlich Professor Wolfgang Wippermann (Berlin) zu Wort, der die „Totalitarismus- und Extremismustheorie“ analysiert und zurückweist. Zu den in der Vergangenheit von Jesse und Backes gelieferten Begründungen für Berufsverbote ist seine Meinung: „... eigentlich gehören die nicht als Gutachter, sondern gehören als Angeklagte vor den Landtag ...“. Aber wie gesagt - sie kamen nicht. Gewidmet ist das Radiofeature dem mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liegenden Hildesheimer Pädagogen und vom Berufsverbot betroffenen Udo Paulus.
Über die Landtagsdebatte berichteten die Fernsehsender NDR 3 und RTL Nord, der Deutschlandfunk, der NDR in zwei Beiträgen (1) (2), die Niedersachsen-Ausgabe der GEW-Zeitschrift E&W (10-2014) sowie HAZ, NP, unsere zeit, Lindenspiegel sowie Internetforen.
Zur Vorgeschichte dieser Aktion (siehe auch den untenstehenden Beitrag) haben die Betroffenen aus Niedersachsen eine Powerpoint-Präsentation erstellt, die bei der bundesweiten Aktionskonferenz am 23.11.2014 in Kassel vorgestellt wurde.
Die Vorgeschichte: Ein Antrag im Landtag
Das Transparent wird gehalten von Laura Pooth (stellvertretende Vorsitzende der GEW Niedersachsen) und Matthias Wietzer (Betroffener). Auf dem Foto links links von ihnen: Ottmar von Holtz, Anja Piel (Bündnis 90/Die Grünen). Rechts: Cornelia Booß-Ziegling (Betroffene), Grant Hendrik Tonne (SPD).
„Ich bin überrascht und beglückt und tief aufgewühlt: dass wir das noch erleben können!“ (Eckart Spoo)
„Das ist wirklich eine sensationelle Debatte." (Norman Paech)
Am 15.05.2014 wurde vom Niedersächsischen Landtag – fraktionsübergreifend (!) – ein von den Regierungsparteien SPD und GRÜNE eingebrachter Antrag mit dem Titel „Radikalenerlass - ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Niedersachsens - endlich Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen einrichten“ beschlossen. Der Antrag (17-1491) kann hier (pdf) abgerufen werden, das Landtagsprotokoll hier (pdf). Desgleichen die Redebeiträge der Regierungsfraktionen SPD und GRÜNE.
Bei einer Aktion von Betroffenen und der GEW (pdf) vor dem Landtag am 24. Januar 2014 - zum 42. Jahrestag des „Radikalenerlasses“ - war die Forderung nach einem solchen Schritt nicht zum ersten Mal erhoben worden. (Bericht in der GEW-Zeitung „Erziehung und Wissenschaft“ ) (Pressemitteilung der SPD Niedersachsen) (pdf).
Betroffene aus Niedersachsen nahmen dazu Stellung: (pdf)
„Jahrzehntelang wurden sie vom sogenannten Verfassungsschutz bespitzelt, mussten Gesinnungsverhöre und Gerichtsprozesse über sich ergehen lassen und wurden als „Verfassungsfeinde“ und „Extremisten“ abgestempelt: die Betroffenen der Berufsverbote. Ihnen wurde von den Regierenden die materielle Existenzgrundlage entzogen; Unsicherheit und Arbeitslosigkeit sowie Benachteiligungen bis zum heutigen Tage bei Renten und Pensionen folgten oftmals.
Zum Antrag. [...]
Die in dem Antrag enthaltene politische Analyse ist treffend und eindeutig:
„Systemkritische und missliebige Organisationen und Personen wurden an den Rand der Legalität gedrängt, die Ausübung von Grundrechten wie die Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit wurde behindert, bedroht und bestraft. Bis weit in die 1980er-Jahre vergiftete die Jagd auf vermeintliche 'Radikale' das politische Klima. Statt Zivilcourage und politisches Engagement zu fördern, wurde Duckmäusertum erzeugt und Einschüchterung praktiziert.“
Richtig wird in der Entschließung festgestellt:
„Eine vollständige politische und gesellschaftliche Rehabilitierung der Opfer steht weiterhin aus.“
Begrüßenswert auch die Zielstellung des rot-grünen Antrages.
Der Landtag soll u.a. feststellen:
„dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen,
dass die Umsetzung des sogenannten Radikalenerlasses ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Niedersachsens darstellt und das Geschehene ausdrücklich bedauert wird,
dass die von niedersächsischen Maßnahmen betroffenen Personen durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit vielfältiges Leid erleben mussten,
dass er den Betroffenen Respekt und Anerkennung ausspricht und sich darüber hinaus bei denen bedankt, die sich z.B. in Initiativen gegen Radikalenerlass und Berufsverbote mit großem Engagement für demokratische Prinzipien eingesetzt haben.
Darüber hinaus soll der Landtag „eine Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von niedersächsischen Berufsverboten betroffenen Personen und der Möglichkeiten ihrer politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung einrichten“, in der Landtagsmitglieder, Betroffene, Gewerkschaften und Initiativen vertreten sind.
Eine „wissenschaftliche Begleitung“ ist dabei vorgesehen. „Ziel ist die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung und die öffentliche Darstellung der Kommissionsergebnisse und die weitere Verwendung im Rahmen der politischen Bildung in Niedersachsen.“
...und zur Debatte
Am 15. Mai 2014 verfolgten von der Loge der rot-grünen Landtagsfraktionen aus acht vom Berufsverbot Betroffene - die mehrfach (u.a. auch durch Namensnennung) begrüßt wurden - die halbstündige Einbringung und Diskussion des Antrages. Fraktionsübergreifend sprachen sich alle Redner/innen für den Antrag und für die Mitarbeit in der einzurichtenden Kommission aus.
In der Vergangenheit betrieb die niedersächsische CDU/FDP-Regierung unter Dr. Ernst Albrecht eine rabiate, unbarmherzige Radikalen-Hatz. Flächendeckend wurden in den 1980er-Jahren zahlreiche verbeamtete Lehrer/innen, die bei Wahlen für die DKP kandidiert hatten, aus ihren Berufen entfernt. Selbst noch in der vorhergehenden Legislaturperiode lehnte die damalige CDU/FDP-Mehrheit 2012 den von SPD, Grünen und Linken gestellten Antrag zur Aufarbeitung ab.
In der jetzigen Debatte stellte der Sprecher der FDP-Fraktion fest, dass früher „Unrecht geschehen“ sei, das benannt werden müsse und gegenüber den Betroffenen „Bedauern“ zum Ausdruck gebracht werden solle. Angelika Jahns (CDU) sprach auch die „materielle Entschädigung“ an. Sie betonte, dass Niedersachsen „als erstes Land einen Beitrag“ zur Aufarbeitung leisten könne und appellierte: „Gemeinsam für Grundrechte und Grundordnung!“ Der rot-grüne Antrag wurde in den Ausschuss für Inneres und Sport zur Beratung überwiesen.
Die Perspektive
Der vorliegende niedersächsische Landtagsantrag kann bereits jetzt als impulsgebendes Dokument angesehen werden, das sicherlich auch außerhalb der Grenzen des Bundeslandes Beachtung finden wird. Handlungsbedarf ist schließlich nicht nur auf der Ebene von Bundesländern gegeben, sondern sämtliche Bundestagsmehrheiten und Bundesregierungen haben sich nach Einführung der Berufsverbote vor ihrer Verantwortung für die verfassungswidrigen Maßnahmen und für das Fortbestehen der Diskriminierung gedrückt.
Die anstehenden Beratungen des Antrages im Innenausschuss und später in der Rehabilitierungskommission werden zwei bislang unberücksichtigte Gesichtspunkte verdeutlichen müssen:
- Mitleid, Bedauern, „Respekt und Anerkennung“ gegenüber den Betroffenen genügt nicht. Was für Fehler im Alltag üblich ist, sollte auch für begangenes Unrecht im politischen Leben Gültigkeit haben: Eine Entschuldigung ist erforderlich
- Rehabilitierung umfasst nicht nur moralische und politische Aspekte, sie beinhaltet auch die Behebung des angerichteten Schadens in finanzieller Hinsicht. Renten- und Pensionskürzungen stellen eine lebenslange Abstrafung für die Betroffenen dar. Kurzum: Eine materielle Wiedergutmachung ist erforderlich.“
Matthias Wietzer Cornelia Booß-Ziegling
(12 Jahre und 6 Monate Berufsverbot) (Berufsverbot seit 1974)
Resonanz in dem Medien
In einer 48-minütigen Radiosendung berichtet „Radio Flora“ (Hannovers webradio) im Internet über die eingebrachte Entschließung. Zwei Betroffene, Cornelia Booß-Ziegling und Hubert Brieden, berichten, was im Landtag geschah und blicken zurück auf ein verdrängtes Kapitel der bundesdeutschen Geschichte. (mp3-Datei)
Die junge Welt veröffentlichte am 02.06.2014 ein Interview mit Cornelia Booß-Ziegling. (pdf)
Das Hamburger Abendblatt berichtete am 04.06.2014 über den „schwierigen Umgang mit Kommunisten im öffentlichen Dienst“ (pdf) (pdf-Scan)
Die Zeitung und auch die Antragsteller irrten allerdings, dass hier das „erste deutsche Parlament“ in diesem Sinn tätig geworden sei. In Bremen war dies, wie auf dieser Website nachzulesen, in etwas anderer Form (vieleicht mit nicht so deutlichen Formulierungen) bereits am 10.11.2011 geschehen.
Ausführlich berichtete auch die GEW-Zeitung "Erziehung und Wissenschaft" (Niedersachsen) in ihrer Ausgabe 06-2014 über die Landtagsdebatte.
Am 21.07.2014 berichtete die tageszeitung (taz) "Warme Worte, aber kein Geld" (pdf) und veröffentlichte parallel ein Interview (pdf) mit dem vom Berufsverbot betroffenen Lehrer Matthias Witzer, einem ehemaligen Ratsherrn der Landeshauptstadt Hannover.
Das bisher in rot-grünen und grün-roten Koalitionen und Landesregierungen festzustellende Schwanken „zwischen positiven Ansätzen und Schweigen“ („Die wundersame Selbstrettung des Winfried Kretschmann aus den Untiefen des Radikalenerlasses“) behandelt ein Artikel von Uwe Koopmann in unsere zeit vom 02.01.2015 (pdf).
Erste Vorstöße 2012
Unter der vorigen CDU/FDP-Landesregierung war 2012 ein ähnlicher Vorstoß im Landtag - gemeinsam mit der damals dort noch vertretenen Fraktion DIE LINKE -, den die Betroffenen mit einem offenen Brief an Ministerpräsidenten David McAllister begleiteten - an der ablehnenden Haltung der CDU gescheitert.
Die Betroffenen im Raum Hannover blieben jedoch am Thema dran und führten beispielsweise am 31.05./01.06.2013 mit Bündnispartnern die Veranstaltung „Von den Berufsverboten zum ‚NSU’-Skandal -Der ‚Verfassungsschutz’ – Gefahr für die Demokratie?!“ durch, die mit einem bundesweites Treffen gegen Berufsverbote gekoppelt war. Auch von solchen Aktivitäten ging eine gewisse Ausstrahlung auf Landtagsabgeordnete aus.