Kundgebung am Tag der Menschenrechte 10. Dezember 2014 vor dem baden-württembergischen Landtag in Stuttgart - und die Folgen ...

 

Eingeladen von der Initiative „40 Jahre Radikalenerlass“ demonstrierten am „Tag der Menschenrechte“ 10. Dezember 2014 in Stuttgart etwa 30 Betroffene zusammen mit etwa gleich vielen Unterstützer/innen vor dem provisorischen Sitz des Landtags von Baden-Württemberg. (Das eigentliche Landtagsgebäude wird gerade umgebaut.)

Die „Landesschau“ des regionalen SWR-Fernsehens berichtete darüber um 19:30 Uhr (ab 7. Minute) (anschauen in der SWR-Mediathek) (herunterladen vom SWR als mp4) (mp4 lokal)

(Clip mit historischem Rückblick: anschauen herunterladen vom SWR mp4 lokal)

 

Die Meldung der Veranstalter (pdf), Presseerklärungen von GEW (pdf, Portal „bildungsklick“ pdf) und ver.di (pdf) und der Verlauf der Kundgebung wurden von verschiedenen Zeitungen und Portalen aufgegriffen, nicht nur – mit einem historischen Foto von Hans Filbinger (1913-2007) - in der Stuttgarter Zeitung (pdf), sondern auch von den Badischen Neuesten Nachrichten (Karlsruhe), Bild (pdf), Focus (pdf) , Heilbronner Stimme (pdf),  junge Welt (pdf), Schwäbisches Tagblatt Tübingen (pdf), Südkurier Konstanz (pdf), Telekom (pdf), Die Welt (pdf). Über den Verlauf berichteten u. a. die Esslinger Zeitung und in ihrer Mitgliederzeitung die VVN-BdA Baden-Württemberg (die Mitveranstalter war), auf ihren Websites die Beobachternews (pdf) und die Parkschützergegen Stuttgart21 (pdf). Auch eine Fotogalerie von der Kundgebung wurde ins Netz gestellt. Radio Dreyeckland (Freiburg) interviewte Michael Csaszkóczy (mp3) (pdf).

 

Nach einer Einleitung von Klaus Lipps im Namen der Initiative erinnerte der Stuttgarter ver.di-Bezirksleiter Cuno Hägele daran, dass neben Lehrerinnen und Lehrern auch andere Berufsgruppen vertreten waren, teilweise im heutigen Organisationsbereich von ver.di. „Heute am Tag der Menschenrechte fordern wir die Aufarbeitung der Berufsverbotepraxis in der Bundesrepublik und in Baden-Württemberg. Wir fordern die Landesregierung auf, die Berufsverbote aufzuarbeiten, auf Regierungsebene einen Arbeitskreis unter Mitwirkung der Betroffenen einzurichten, mit dem Ziel der Rehabilitierung und Wiedergutmachung und auch der materiellen Entschädigung!

Die Landesregierung muss sich bei den Opfern des sogenannten Radikalenerlasses entschuldigen.“ Und an die Adresse von Winfried Kretschmann: Von einem Ministerpräsidenten, dem 1975 selbst die Einstellung in den Schuldienst aus politischen Gründen verweigert wurde, kann man verlangen, dass er sich an die Spitze der Aufarbeitung der Berufsverbotepraxis im Ländle stellt, Das, Herr Ministerpräsident, sind sie den vielen Unterstützern schuldig die damals dafür gesorgt haben, dass Ihr Berufsverbot als Lehrer verhindert werden konnte. Solidarität ist keine Einbahnstraße – wir erwarten nun von der Landesregierung, dass sie umgehend Rehabilitierung , Wiedergutmachung und materielle Entschädigung angeht.“ Der ver.di-Bezirksleiter fügte hinzu: „Viele von uns haben damals das Wirken des unsäglichen Verfassungsschutzes bis hinein in die Familien erleben müssen, deshalb gibt es an dieser Stelle nach wie vor, und auch nach dem Skandal um die NSU und die Blindheit auf dem rechten Auge dieses Amtes, nur eine Forderung: Löst den Verfassungsschutz endlich auf.

Cuno Hägele (ver.di) hält das Mikro für Doro Moritz (GEW), während der "Verfassungsschnüffler" eifrig zuhört.

 

Auch die GEW-Landesvorsitzende Doro Moritz forderte eine vollständige Rehabilitierung der Berufsverbotsopfer in Baden-Württemberg ein und verlangte eine entsprechende Entscheidung im Landtag. In ihrer Rede (pdf lokal) ging sie nicht nur auf die Geschichte und politische Dimension der Berufsverbotspolitik ein, sondern auch auf die eher unerfreulichen Aspekte ihrer Verarbeitung in der GEW, die einige der betroffenen Mitglieder damals ausschloss. [Mehrere von ihnen waren bei der Kundgebung anwesend.] Dazu wiederholte sie ausdrücklich die Entschuldigung der GEW bei diesen Kolleginnen und Kollegen, deren Mitgliedschaft rückwirkend anerkannt und beitragsfrei fortgeführt werde.

„Wir erwarten ein deutliches Zeichen der grün-roten Landesregierung und die schon lange versprochene wissenschaftliche Aufarbeitung der Fälle in Baden-Württemberg“. Die GEW schlage vor, dass wie in anderen Bundesländern diese Entscheidung im Landtag getroffen werden soll: „Der Landtag von Baden-Württemberg fordert die Landesregierung auf, den Beschluss der Landesregierung Baden-Württemberg über die Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst vom 2. Oktober 1973 aufzuheben. Der Landtag bittet die Landesregierung, in geeigneter Weise mit den Betroffenen einen Weg zur Aufarbeitung, Rehabilitierung und Entschädigung zu suchen.“
(Bericht in der GEW-Zeitung b&w 1-2/2015, S. 45)

 

Michael Csaszkóczy erinnerte daran, „dass meine intensive geheimdienstliche Beobachtung genau in die selbe Zeit fällt, in der der ‚Verfassungsschutz’ von der mordenden Terrorgruppe des ‚NSU’ angeblich nichts gewusst haben will, obwohl er jede Menge V-Leute im direkten Umfeld seiner Mitglieder platziert hatte. Das Beharren des Verfassungsschutzes darauf, meine Akten weiter zu horten und geheim zu halten, fällt in die gleiche Zeit, in der kistenweise Dokumente über den NSU und das System der Nazi-V-Leute durch die Schredder gejagt wurden ... Dieser Wahnsinn hat Methode und er steht in einer unseligen Tradition.“ Er zitierte aus den haarsträubenden Begründungen des baden-württembergischen Innenministeriums gegen die Herausgabe der ihn betreffenden „Verfassungsschutz“akten und wiederholte die Forderung nach Auflösung dieser Behörde. Im Fernsehinterview zitierte er, was er bei Veranstaltungen an Hochschulen schon oft von Studierenden gehört habe: „‚Ich will doch jetzt Lehrer werden, ich darf jetzt nicht mehr demonstrieren gehen.’ Das ist eine Folge des ‚Radikalenerlasses, die immer noch nachwirkt, das ist ganz weit verbreitet, und das finde ich tatsächlich schlimm für eine Demokratie, wenn Leute ihre Grundrechte an der Garderobe abgeben, weil sie etwas erreichen wollen oder weil sie gar in den Staatsdienst wollen.“ (anschauen in der SWR-Mediathek) (herunterladen vom SWR als mp4) (mp4 lokal). - Auch Radio Dreyeckland (Freiburg) interviewte Michael Csaszkóczy (mp3) (pdf).

 

Durch die Kundgebung angeregt, berichtete die Stuttgarter Zeitung am 18.12.2014 ganzseitig auf S.3 über „Die Akte Kretschmann, Winfried (pdf, pdf-Scan mit Fotos und Plakat-Reproduktion) (Titelseite-Aufmacher) (Fotostrecke der Zeitung). Auch andere hakten mit Details über den Aktenfund nach wie die Schwäbische Zeitung (Ravensburg) (pdf) und prompt tauchten neue unbekannte Akten auf (pdf) (pdf-Scan). Dazu gingen dann zwischen den Feiertagen wohl einige Leserbriefe bei der Redaktion ein nach dem Motto: „Warum wird dies aufgekocht?“ (02.01.2015)

 

Der Regierungschef selbst teilte in einem dpa-Interview mit, er halte die wissenschaftliche Aufarbeitung" der Berufsverbote für wünschenswert ... damit müsse die Wissenschaft beauftragt werden.Nachlesbar z.B.: Arcor-Portal (pdf), Focus (pdf), Heilbronner Stimme (pdf), ka-news (pdf). Pforzheimer Zeitung, Reutlinger Generalanzeiger, Rhein-Neckar-Zeitung (Heidelberg), Südwest Presse (pdf), Südkurier (pdf). Zum Teil sei das Vorgehen gegen Menschen mit linken Ansichten hysterisch gewesen, in seinem eigenen Fall allerdings berechtigt, sagte Kretschmann in diesem Interview. «Warum hätte der Staat damals jemanden einstellen sollen, der im KBW für die Diktatur des Proletariats eintrat?» Der Lehrer für Chemie und Biologie fügte hinzu: «So jemand kann doch nicht in den Staatsdienst.» In die Referendarausbildung und den Schuldienst sei er dann doch gekommen, «weil ich mich von diesem Club abgewendet habe». Eine Sicht, der die Betroffenen-Initiative in einer Presseerklärung umgehend widersprach:

Die Berufsverbote in der Bundesrepublik  Deutschland  waren und sind ein Verstoß gegen Grundrechte und Menschenrechte! Die Aufarbeitung des mit dem Radikalenerlass von 1972 verbundenen Unrechts ist nicht allein eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft! Noch leben die meisten Betroffenen und tragen bis heute an den Folgen dieser politischen Verfolgungsmaßnahme. Und noch immer sorgt die Drohung mit Berufsverbot – nicht zuletzt mit tatkräftiger Unterstützung von Herrn Kretschmann – für ein Klima der Einschüchterung und des Duckmäusertums (nicht nur) im Öffentlichen Dienst. Wir fordern nicht nur die wissenschaftliche, sondern vor allem die politische Aufarbeitung des begangenen Unrechts, die Rehabilitierung und in Einzelfällen auch die materielle Entschädigung der Betroffenen, sowie die Offenlegung und anschließende Vernichtung der einschlägigen „Verfassungsschutz“akten und nicht zuletzt die Abschaffung der gesetzlichen Grundlagen und sonstigen Relikte der bundesdeutschen Berufsverbotspraxis. Bremen und Niedersachsen mit ihren „rot-grünen“ Regierungskoalitionen weisen mit den dort ergriffenen Schritten in die richtige Richtung. Einen entsprechenden politischen Willen, entsprechende Diskussionen und Beschlüsse des Landtags fordern wir auch von „Grün-Rot“ in Baden-Württemberg ein.“

 

Einstmals betroffen war auch der Schriftsteller Jochen Kelter. Er hatte sich deshalb - wie die Stuttgarter Zeitung am 24.12.2014 ausführlich schilderte (pdf) (pdf-Scan) - im Sommer 2011 mit enttäuschendem Ergebnis an den neuen Ministerpräsidenten gewandt (pdf) - wie auch andere Betroffene. Auch über ihn wurden nun Akten gefunden. Auch der Passus zu der Stellungnahme, mit der Kelter schIießlich die Zweifel an seiner Verfassungstreue ausräumte, betraf  gemeinsame Erfahrungen. ‚lch schrieb unter juristisch prüfendem Auge einen leicht merkwürdigen Brief. eine Camouflage. halb Zugeständnis, halb Beharrung’, schilderte Kelter. ‚Bei seinem Anblick schauderte es meinem akademischen Lehrer.’ Kretschmannns entsprechende Stellungnahme - ein Schlüsseldokument - ist in den Akten zwar erwähnt. findet sich aber nicht darin. Quälte er sich damIt genauso wie Kelter, oder ging es ihm leicht von der Hand?“

 

Das bisher in rot-grünen und grün-roten Koalitionen und  Landesregierungen festzustellende Schwanken „zwischen positiven Ansätzen und Schweigen („Die wundersame Selbstrettung des Winfried Kretschmann aus den Untiefen des Radikalenerlasses“) behandelt ein Artikel von Uwe Koopmann in unsere zeit vom 02.01.2015 (pdf).